VACLAV OTTL
Dr. Vaclav Ottl kam zusammen mit seiner Frau Mila und ihrem Sohn Petr als Flüchtling nach der Okkupation der Tschechoslowakei in die Schweiz. [Am 21. August 1968, marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein, um den Versuch einer Reform des Sozialismus zu stoppen.]  
Er erhielt 1969 das Asylrecht und 1974 die Niederlassungsbewilligung im Kanton Zürich. Er ist im Kreis Mittelböhmen geboren und aufgewachsen. In Prag schloss er seine Mittelschulausbildung mit der Maturität nach Typus A ab. Vaclav Ottl studierte hierauf an der philosophischen Fakultät der Karl-Universität Altphilologie und Philosophie. 
Er erwarb sich die Lehrbefähigung für Latein und Philosophie als Hauptfächer, Griechisch, Logik und Psychologie als Nebenfächer. In der Folge unterrichtete er an Gymnasien in Kladno und Prag. Neben der Unterrichtsarbeit studierte er weiter, promovierte und habilitierte sich an der Karl-Universität. Bis zum Jahr 1968 wirkte Dr. Ottl als Wissenschafter und Lehrer an der Universität. 
Als gewählter Präsident der Universitäts-Gewerkschaftsorganisation stellte er sich in den Dienst der Ideen des "Prager Frühlings" und erlebte noch die Besetzung der Universität durch Truppen des Warschauer Pakts; erst nach dem Tode Jan Palachs entschloss er sich zur Emigration. In der Schweiz unterrichtete Dr. Ottl an verschiedenen Mittelschulen in der Region Zürich.
Er war verheiratet mit Mila, die Frau des Künstlers Pavel Šimon, der 1958 gestorben war.

Seine Adresse in Zürich war (1998): Ottl Vaclav (-Hudera), Prof. Dr. Phil., Klarastr. 3, 8008 Zürich/ZH 01 261 99 



                 
               Vaclav Ottl



Vaclav Ottl signiert sein Buch 
am 3. 5. 1993

Jan Palach (* 11. August 1948 in Melník; † 19. Januar 1969 in Prag) war ein Student an die Karlsuniversität in Prag (wo Dr. Ottl wirkte) der sich aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings und gegen das Diktat der Sowjetunion selbst verbrannte. Er wollte damit, knapp fünf Monate nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, ein Zeichen gegen die Rücknahme der Reformen der Regierung Alexander Dubceks und die daraus folgende Lethargie und Hoffnungslosigkeit der tschechoslowakischen Öffentlichkeit setzen. Jan Palach erlag am 19. Januar 1969 seinen starken Verbrennungen. Noch am gleichen Nachmittag strömten rund 200.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz zusammen, um an der Stelle, an welcher Palach brennend zu Boden gefallen war, Kränze niederzulegen. Die Menge begab sich zur Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, wo sie den Platz vor dem Hauptgebäude der Fakultät - welcher den Namen "Platz der Roten Armee" trug - durch das Auswechseln der Schilder in "Jan Palach Platz" umbenannten. Diese Maßnahme wurde von der Staatsführung umgehend rückgängig gemacht, so dass eine offizielle Umbenennung erst nach der Samtenen Revolution von 1989 unter Leitung von Vaclav Havel erfolgte. Nach einer Schweigeminute im ganzen Land am 24. Januar und nach feierlicher Aufbahrung in der Karlsuniversität zu den Füßen einer Statute von Jan Hus wurde Palachs Begräbnis zu einer Massendemonstration unter Beteiligung von über 10.000 Menschen. Jan Palach wurde zu einem Märtyrer für eine freien Tschechoslowakei und zu einem starken Symbol.

Bibliographie:

OTTL, Václav: "Uveritelné divy", Ill. Ch. Abtová-Gyslingová. -- 1. vyd. -- Zürich : Polygon, 1993. -- 290 s. 
(3-9520145-1-6 : in Tschechien 70.00 Kc)


Ansprache, die Dr. Vaclav Ottl, Lehrer für Latein an der Kantonsschule Zürcher Unterland (KZU), an der Maturfeier vom 27. September 1982 gehalten hat:

Gute Reise

Liebe Maturandinnen und Maturanden,
sehr geehrte Eltern,
meine Damen und Herren!

Das, was ich Ihnen am heutigen Festtag sagen möchte, wird für manche Ohren vielleicht zu abstrakt klingen; die anderen werden es als mehr oder weniger interessantes Repetitorium dessen betrachten, was sie Gott sei Dank vergessen haben. Meiner Meinung nach ist es dennoch ein bisschen wichtig und sogar aktuell. Warum? In 18 Jahren werden wir zusammen, wie wir hoffen, das 3. Jahrtausend in Angriff nehmen; ich bin neugierig, wie viele von Ihnen dieses Jubiläum feiern werden - unsere Schule wird dann allerdings schon 30 Jahre hinter sich haben - also 30 Jahre des ewigen Kampfes des Neuen und Jungen gegen alles Altwerdende; kurz - ich bin neugierig, wie sich die Geschichtsphilosophie und die Philosophie unserer Kultur - und das sollte unser heutiges Thema sein - entwickeln werden.

Meiner Überzeugung nach sind es nämlich unsere europäische Kultur und Zivilisation, die auf der einen Seite in die ganz unangenehme Rivalität der zwei Super-Mächte geraten sind, die aber auf der anderen Seite immer noch von jungen Menschen der dritten Welt, trotz ihrer eigenen traditionellen Kulturen (in China zum Beispiel) immer wieder studiert und nachgeahmt werden. Der große Pädagoge, Philosoph und Theologe - man könnte sagen, außer Leibniz der letzte Polyhistor - Jan Amos Comenius hat schon im 17.Jahrhundert in seiner «Didacta magna» empfohlen, man sollte nach beendetem Studium mindestens ein Jahr reisen und fremde Kulturen studieren. Viele von unseren Absolventen praktizieren das; die Universitätsstudenten im Mittelalter - discipuli vagantes - deren Carmina Burana als Wiegenlied unserer entstehenden Kantonsschule klingen, verbrachten die einzelnen Semester ihrer Studienzeit auf verschiedenen Schulen der damals kleinen Kulturwelt - und auch diese Tradition gehört zu unserem europäischen Kulturerbe. Heute tun das auch die meisten afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Studenten, welche die europäischen Schulen besuchen. Die Frage, die ich mir dabei oft stelle, ist, ob sie nur die positiven Seiten unseres europäischen Kulturerbes aufnehmen. Und wo sind die positiven Quellen dieser europäischen Kultur im besseren Sinne dieses Wortes?

Primum vivere - zuerst muss man leben. Sicher; aber ist die luxuriöse Zivilisation, sind die modernen Waffen, ist alles, was Europa bis jetzt in die Dritte Welt exportierte (und was die USA weit übertroffen haben) - ist das der Sinn unseres Kulturerbes? Ich glaube nicht.

Ich sehe den Sinn dieses Erbes im Dienste an den höheren ethischen Idealen, dem Guten, dem Wahren, dem Schönen. Unser Lebensziel, als Fundament unserer europäischen kulturellen Identität, heißt: in Übereinstimmung mit der höheren Moralordnung zu leben, in der Wahrheit und nicht in der Lüge zu leben, im Bewusstsein seiner persönlichen Verantwortung nicht gegenüber dem Staat, nicht gegenüber der Kirche, nicht gegenüber der Partei, sondern gegenüber dem eigenen Gewissen, dem eigenen Subjekt, welches dem höchsten, wenn Sie erlauben, göttlichen Ideal ähnlich sein soll.

Sie, unsere heutigen Maturanden, sollen die Erben und Träger unserer Kultur und zugleich Ihrer Bildung und Weiterbildung sein. Grundlagen dazu hat Ihnen unsere Schule geben sollen. Trotz dem Respekt, den ich für die Naturwissenschaften habe, und obwohl ich die Mathematik als Schule des logischen Denkens verehre, meine ich, dass Sie in erster Linie ein gewisses Niveau der allgemeinen Bildung, das heißt der Partizipation an diesem Kulturerbe, haben sollten und dass Sie berufen sind, diese Kultur weiterzugeben und zu entwickeln. Ich möchte keine Utopie voraussagen - weder so, wie sich das Hegel mit seinem Weltgeist vorgestellt hat (das endete nämlich mit der preußischen Monarchie), noch wie Marx, dessen Urenkel zwischen den stalinistischen Genoziden auf der einen Seite und Kadars Goulasch-Sozialismus auf der anderen Seite schwanken, noch wie Jean-Paul Sartre, der keinen objektiven Sinn in der Geschichte finden wollte und für welchen nur der präsente Augenblick eines jeden einzelnen Menschen in der einmaligen Situation seiner Existenz den Ausgangspunkt für den Null-Stand bildete, von dem aus er absolut frei die Zukunft erschaffen wollte. Meiner Meinung nach ist die Philosophie der Geschichte als Erkenntnis der Geschichte die Gesamtheit der Lebensäusserungen der menschlichen Gesellschaft in Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion, aber natürlich auch in der Technik, in all dem, was wir Zivilisation nennen. Und die Frage nach dem Sinn der Geschichte ist also auch die Frage nach dem Sinn der Kultur. Jede von den inspirierenden Ideen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte realisiert wurden, hängt eng mit den früheren Ideen zusammen, in dem Sinne, dass jede kommende in den früheren schon integriert und als ihre Entwicklungsmöglichkeit vorhanden ist, wenn auch ihre Realisierung nicht vorauszusehen ist. Der Sinn der Geschichte, also auch der Kultur, kann nur eine organisch zusammenhängende Reihe der inspirierenden Leitprinzipien der Kultur sein, die die Geschichte formieren und nach denen sich die Menschen innerhalb dieser Kulturetappen richten. Brevis esse volo, obscurus fio?

Doch damit sind wir nicht fertig. Die Geschichtsphilosophie und somit auch die Philosophie der Kultur besitzen eine Zukunftsdimension. Da fängt der Akt der persönlichen Freiheit des einzelnen Menschen an. Ob ich will oder nicht, wird er zur objektiven Realität. Der Begriff der Kultur bedeutet eine Regula - eine Regel. Die menschliche Gemeinschaft hat sich diese Regula durch Erfahrung angeeignet. Sie gibt diese weiter und entfaltet nach ihr das individuelle und gemeinsame Leben. Anders definiert, ist die Kultur «ein gemeinsamer Lebensstil». Sie ist die Gesamtheit aller Formen des Könnens, des Denkens, des Handelns und des Fühlens, die es dem Menschen erlaubt, immer freier und schöpferischer zu werden, immer mehr Mensch zu werden. Alles, was ich als Mensch unternehme, geschieht in der Kultur innerhalb des gemeinschaftlichen Ganzen, das es mir ermöglicht. Im einzelnen Menschen lebt die ganze Kultur der Menschen vor ihm. Die Grundprinzipien der Kulturwerden von einer Generation zur andern überliefert.

Bis heute ist es nicht ganz geklärt, wann unsere Kultur entstanden ist. Ihr Entstehen hängt sehr wahrscheinlich mit der Entstehung der griechischen Polis im 6.Jh.vor Chr.zusammen. Diese Kultur wurde dann mit den römischen, jüdischen, germanischen, slawischen, byzantinischen, später noch mit italienischen und französischen Beiträgen integriert. Rom war ziemlich stolz auf seine Eigentümlichkeit, aber im Sinne seiner «Natio» sah es sich immer als eine Pluralität. Die Juden stellen da ein Specificum dar; sie identifizieren «Natio» und «Religio,». Der byzantinische Beitrag zu unserer Kultur muss noch geklärt werden. Bis zum Schisma existierte da eine Einheit mit Rom; später wurde die östliche Kultur immer konservativer, unterlag der Hierarchie und wirkte ziemlich absolutistisch.

Die Germanen haben das Imperium Romanum zerstört, halfen der feudalen Gesellschaft zur Entfaltung und führten zum Beispiel den Begriff der persönlichen «Ehre» ein.

Homo sapiens ist zugleich auch homo faber. Die griechische Gnoseologie ist etwas von der Natur Gegebenes. Die harmonische Entwicklung des Menschen geschieht in der freien Polis und ihr Wert ist superpersonell. Die Dreiheit des Denkens, Wollens und Fühlens entspricht der Triade der Wahrheit, des Guten und des Schönen. Die Griechen zielten zum Logos, aber sie richteten sich zugleich nach der Regel «Der Mensch ist Maßstab aller Dinge».

Die Römer brachten mit «Ius» und «Civitas» das universale Recht in dieses Kulturerbe herein.

Die weitere Komponente ist zweifellos das Christentum mit seiner neuen Moral. Man kann Christus den Erlöser oder Apostata der alten Religion nennen: er bringt eine ganz neue Moralität, die für alle Zukunft absolut gültig sein soll. Die «Civitas» als «Ecciesia» bezieht sich als Reich Gottes auf die ganze Menschheit. Der ewig lebendige «Actus charitatis», ersetzt den bisherigen Mystizismus.

Das Christentum bringt auch ein großes Paradox in unsere Kultur: In der Antike ist der Mensch ein irdisches, weltliches Geschöpf. Auch die ganze antike Religion ist anthropomorph. Der neue Mensch des Christentums steht zwar auch auf der Erde; doch sein wahres «Zuhause» ist nicht hier, sondern in der «Civitas Dei». Das Ziel eines Christen ist hingegen das jüngste Gericht, wo alle Taten, also die ganze Geschichte, gerichtet werden; der Stoiker lebte «convenienter naturae» - in der Übereinstimmung mit der Natur - der Christ soll die Natur erlösen, retten, Der ehemalige «Civis Romanus» soll jetzt nicht nur alle Nächsten, sondern sogar seine Feinde lieben. Unsere Kultur, die wir in unserem Kulturbereich besitzen, beruht auf dem echten Prinzip des Christentums, auf der Liebe. Auch der Kleinste, der Ärmste, der Elendeste ist zu einer Persönlichkeit erhöht worden - er ist auserwählt, Gottes Sohn zu werden. Jede Seele ist der Erlösung wert. Das hat mich immer am Christentum fasziniert. Nach der majestätischen Vision des Augustinus «De civitate Dei», neben der kühnen «Civitas solis» von Campanella eine Ankündigung der Renaissance, hören wir die Hymnen des Francesco d'Assisi. Statt der tragischen Medea sehen wir Michelangelos «Pieta» und hören Jacopone da Todis «Stabat Mater».

Und das ist schon die Renaissance in ihrer Hochblüte. Das wertvollste, was sie in unsere Kultur hineinbrachte, ist aber die liberale Idee des freien Individuums, der höchsten Persönlichkeitsentfaltung. Und dies war und ist immer noch das höchste Ziel aller Menschen aller Zeiten.

Nur noch ganz kurz: Der Humanismus, die Reformation, die stürmische Entwicklung des Empirismus in den Naturwissenschaften, der Rationalismus, die Aufklärung im weiteren Sinne des Wortes, der politische Liberalismus, dessen Gipfel die Grosse französische Revolution darstellt, alle Industrierevolutionen, der Romantismus in der Kunst und Literatur, das Erwachen des nationalen Bewusstseins bei so vielen Völkern, die Konstitutions- und Unabhängigkeitskämpfe, aber auch alle Formen des Sozialismus stellen zusammen ein Liberalisationsphänomen dar.

Die allererste Idee ist das Ideal einer freien Persönlichkeit: Du kannst alles tun, dem du gewachsen bist! Der Liberalismus postuliert drei Arten von Freiheiten: 1. die persönliche Freiheit des Bürgers (subsumiert die Freiheit der Wissenschaft, der Religion und der Kunst). 2. die nationale Freiheit und Souveränität. 3. die sozialökonomische Freiheit.

Das klingt schon recht modern: Diese Forderungen werden heute sowohl in Washington als auch in Moskau, in Nairobi, in Beirut, in San Salvador, in Warschau, in Helsinki und in Madrid formuliert und laut proklamiert.

Nur ist der Sinn ein bisschen problematisch geworden. Die Ziele sind divergent, die offene und aufrichtige Interpretation ist leider oft sehr zweifelhaft.

Meine lieben Maturandinnen und Maturanden, Sie haben die Matur gemacht. Das ist etwas Schönes, Grosses; es hat in der ganzen Welt einen Wert. Doch das Äußere - oft ein Stück Papier oder eine Medaille - ist nicht wichtig. Sie haben den Rang eines Menschen mit Allgemeinbildung erreicht. Die Reichweite ihrer Bildung entspricht derjenigen des Renaissancemenschen. Sie umfasst das philologisch-historische Element, das naturwissenschaftlich exakte Element und auch schon etwas vom speziellen, individuellen Element. Doch Achtung! Vor allem die totalitären Regimes fördern an erster Stelle die Techniker, Mediziner und Naturwissenschaftler. Warum? Weil sie diese für ihre Machtpläne brauchen. Was haben aber manche dieser Wissenschaftler gemacht, dass ihre Arbeit, dass ihre Entdeckungen nicht gegen die Menschen missbraucht werden? Nichts! So wurde es möglich, dass Ärzte für die Nazis unmenschliche Experimente ausführten, so ist es möglich, dass große Naturwissenschaftler für ein totalitäres Regime arbeiten, dass Psychiater in Gulag, in Bohnice und seit Dezember auch in Polen an der Versklavung von Menschen arbeiten. - Die apolitische Wissenschaft büsst zu spät für ihre so genannte Objektivität. Denken wir zum Beispiel an Sacharow!

Es wird heute über die Krise der Demokratie gesprochen. Doch: nomina sunt odiosa - es kommt nicht auf die Namen an! Fragen wir uns: Wo lebt man mehr demokratisch und frei: in der so genannten Volksdemokratie oder in einer konstitutionellen Monarchie? Der richtig verstandene Liberalismus muss der Ausgangspunkt jeder Demokratie sein, aber auch in puncto der sozialen Kontakte! Was ist aber die conditio sine qua non der wahren Demokratie? Meiner Meinung nach ist das die Frage der Kontrolle von unten. Subjekt, Träger der Kontrolle, muss der Souverän, das heißt das Volk, sein, das bedeutet: jedes Mitglied des Volkes. Es gibt leider immer noch Privilegierte, und zwar überall. Was ist aber das Privileg? Sicher ein Missbrauch der Freiheit, um Macht zu gewinnen. Überall - im Westen und im Osten, im Süden und im Norden: Ohne Kontrolle, ohne Pluralität, ohne irgendwelche Form der Opposition gibt es keine Demokratie!

Die echten, unverfälschten antiken und christlichen Elemente sehe ich noch im folgenden: Alles, was die Menschen tun, ist unvollkommen, aber es gibt ein Streben nach Wahrheit, nach Gutem, nach Schönem, kurz gesagt nach dem Vollkommenen, was auch die beinahe schon mystische Parole der Grossen französischen Revolution ausdrücken sollte: liberté, égalité, fraternité. Der absolute Liberalismus des freien Wettbewerbs (Smith, Malthus, Neill) führte einerseits zur Weltherrschaft Englands, aber zugleich entstanden ihm die Antipoden: Anarchismus und Sozialismus. Und auch mit der égalité war es immer problematisch, denn von Natur aus sind die Menschen nicht gleich; sie sollen aber die gleiche Chance in der Gesellschaft haben. Natürlich muss jeder Einzelne auch den Willen haben, diese Chance auszunützen.

Und wie ist das mit der fraternité? «Alle Menschen werden Brüder» singt man in der Neunten Beethovens, doch auch diese Idee ist zu abstrakt, zu hoch gegriffen; es ist nicht so einfach, sie zu realisieren. Der Staat ist sicher die ältere Institution als die Nation. Garantiert der Staat die juristische Gleichheit, dann ist das sicher ein demokratischer Staat. Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass in dieser Hinsicht die Schweiz überall immer noch als Beispiel bewundert, ja sogar beneidet, eventuell auch gehasst wird.

Der Gipfel des Liberalismus, vor allem des sozialen Liberalismus, sollte der Sozialismus sein. Ist das überhaupt möglich? Diese Frage ist, das muss ich aufrichtig sagen, die schwierigste. Das soziale Elend, die Armut in der Welt, sie sind immer so groß, dass man sie mit karitativen Mitteln nicht lösen, ja nicht einmal lindern kann. Aber diese Frage hängt auch mit unserem Thema, mit der Kultur zusammen. Leider ist alles, was in dieser Hinsicht bis jetzt versucht worden ist, sehr enttäuschend gewesen. Die hoffnungsvollen Umwälzungen und Revolutionen haben immer viele Schmerzen, viele Tote, ja viele Millionen Tote mit sich gebracht. Man muss oft über die Unumgänglichkeit des extremen Mittels der Revolution sprechen: Gewaltsam kommt sie, und manchmal wird sie einfach importiert im Interesse einer kleinen Gruppe. Es kommt oft zur «provisorischen» Diktatur, zur «vorübergehenden» Diktatur einer «Klasse», einer Clique, einer Schicht, die aber mehr als 60 Jahre dauert. Vielen dank für die «provisorische Okkupation» meiner ursprünglichen Heimat; dieses Provisorium dauert schon 14 Jahre! Dabei werden ganz naive Vorstellungen verbreitet, dass die wirtschaftlichen und sozialen Mechanismen automatisch funktionieren und dass dabei die menschliche Persönlichkeit keine Rolle spielt. Der sogenannte sozialistische Mensch, als Resultat dieser generationenlangen Züchtung, steht da oder wird dargestellt als Gegenpol zur egoistischen, individualistischen, elitären, ja aristokratischen Persönlichkeit. Doch die anonyme Masse stellt eine Art der Unterdrückung dar, die zu einer bremsenden, konservativen Kraft wird; und aus dieser stinkenden Quelle der Anonymität und der Unverantwortlichkeit wachsen dann die sozialistischen Bonzen empor, der neue Adel, die neue Obrigkeit, die Privilegierten. Sie bemächtigen sich aller Güter, ihre Macht wächst immer mehr und bleibt absolut ohne Kontrolle. Im Namen der ursprünglich progressiven Tendenzen werden viele Menschen verfolgt, psychisch und physisch gefoltert, ja sogar liquidiert. Alle denkenden Menschen werden diffamiert, und schließlich werden alle positiven Werte dieser Gesellschaft, wie zum Beispiel die Gewerkschaften und Syndikate, aufgehoben oder zur Sklaverei gezwungen.

Also noch einmal kurz: Ohne freie menschliche Persönlichkeit kann man vielleicht eine gewisse Stufe des Konsumwohlstandes erreichen, aber diese kleinbürgerlichen Vorstellungen des sozialistischen Paradieses haben dennoch mit den Ideen der Freiheit nichts zu tun! Mich persönlich faszinieren immer mehr die ewig geltenden Ideen des Christentums. Meine Seele ist unsterblich, die deine auch. Das ist uns geschenkt worden, uns allen, das ist die gleiche Chance für uns alle! Das Unsterbliche in mir kann dich - das Unsterbliche in dir - nicht hassen, nicht beneiden! Und es kommt nicht darauf an, aus welchem Stamm, Geschlecht, aus welcher Familie du bist, sondern was du aus deiner Seele machst!

Was ich zum Schluss noch betonen möchte: die größte Gefahr für unsere Kultur liegt in ihr selbst, dass sie nämlich von den genannten Quellen und Wurzeln abkommt. Es kommt ganz planmäßig zu starker atheistischer Propaganda, die die absolute Beherrschung der Menschen prätendiert, ihrer Seelen, ihrer Gefühle. Das Ziel ist klar: Die «alte» Moral wird durch die Moral ersetzt, nach welcher der Zweck die Mittel heiligt. Die Prinzipien der Liebe werden durch die des Hasses ersetzt. Ein einziges Beispiel für viele: In den fünfziger Jahren wurde der sowjetischen Jugend als Vorbild ein Knabe, ein Pionier namens Pavlik Morozov *), hingestellt. Sein Bild hing in allen Schulen, in allen Jugendhäusern. Warum? Pavlik hatte mit seinen 9 Jahren eine solche Höhe der politischen Reife erreicht, dass er seine eigenen Eltern wegen subversiver Tätigkeit anzeigte. Sie wurden in ein Lager geschickt und dort liquidiert.

Aus Hass kann nichts Gutes wachsen. Meine lieben jungen Freunde! Bleiben Sie, bitte, den positiven Quellen unserer Kultur treu! Kämpfen Sie für die Ideale des Wahren, des Guten und des Schönen! Schützen Sie dieses Erbe und entfalten Sie es! Wir, Ihre Lehrer, gratulieren Ihnen und wünschen Ihnen heute, dass die Erinnerung an Ihre Bülacher Lehrjahre in Ihren Augen immer nur freudiges Lachen und in Ihren Herzen Gefühle des Glücks und Wohls hervorruft.

Gute Reise!

 

Source: http://www.kzu.ch/varia/archiv/jabe/1980/1980_05.htm ]  (This page has been removed).

*) Vaclav Ottl lived in Czechoslovakia during the communist period until he emigrated to Switzerland in 1969. He didn`t know that the story about Pavlik Mozorov, Pioneer Number 1, was full of lies. Druzhnikov, Yuri (Born April 17, 1933, Moscow), a Russian writer and historian of literature wrote a book about Mozorov. 

www.tfsimon.com